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Exkurs: Die Prüfung von Ansprüchen
Leider ist es mit dem Lernen des abstrakten Stoffs im Jurastudium nicht getan. Man muss auch wissen, wo und wie das Gelernte im Gutachten zu verorten ist. In zivilrechtlichen Klausuren geht es dabei nahezu ausschließlich um die Prüfung subjektiver Rechte.
Übersicht: Subjektive Rechte
Definition: Subjektives Rechte
„Das subjektive Recht ist eine Rechtsmacht, die dem Einzelnen von der Rechtsordnung als ein Mittel zur Wahrung seiner Interessen verliehen ist.“
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Vorstellen kann man sich subjektive Rechte wie einen rechtlichen Werkzeugkasten, der dem Einzelnen von der Rechtsordnung in die Hand gedrückt wird, damit dieser an seinen Rechtsverhältnissen - also den rechtlichen Beziehungen mit seinen Mitmenschen - herumbasteln kann.

Im Privatrecht ist es üblich, verschiedene Arten subjektiver Rechte zu unterscheiden:
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Vertiefend zu subjektiven Rechten: Klicke hier.
Der Anspruch

Ausgangspunkt bei der Prüfung subjektiver Rechte ist die Prüfung des Anspruchs. Die anderen subjektiven Rechte (Gestaltungsrechte und absolute Rechte) werden inzident (= dazwischen) geprüft.
Beispiel: Prüfung eines Anspruchs aus § 985 BGB
Bei der Prüfung eines Anspruchs aus § 985 BGB geht man folgendermaßen vor:
1. Anspruchsteller ist Eigentümer
--> Inzident: Prüfung des Eigentums (= absolutes Recht)
2. Anspruchsgegner ist Besitzer
3. Besitzer hat kein Recht zum Besitz
Werden diese drei Punkte bejaht, ist ein Anspruch aus § 985 BGB entstanden. Im ersten Prüfungspunkt muss man sich fragen, ob der Anspruchsteller Eigentümer ist. Hier wird also innerhalb der Prüfung des Anspruchs aus § 985 BGB inzident das Eigentum (= absolutes Recht) des Anspruchstellers geprüft.
Ausgangsfrage bei Prüfung von Ansprüchen
Ausgangsfrage bei der Prüfung eines Anspruchs ist folgender elementarer Satz:
Wer will was von wem woraus?
Diese Frage ergibt sich, wenn man genau hinsieht, aus § 194 I BGB, in welchem der Anspruch definiert ist als:

Ordnet man das um, erhält man den Ausgangssatz der Prüfung:

Beispiele: Obersatz bei Prüfung eines Anspruchs aus...
... § 433 I 1 BGB
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K (wer) könnte gegen V (von wem) einen Anspruch auf Übergabe und Übereignung der Kaufsache (was) gem. § 433 I 1 BGB (woraus) haben.
... § 433 II BGB
-
V (wer) könnte gegen K (von wem) einen Anspruch auf Zahlung des vereinbarten Kaufpreises (was) gem. § 433 II BGB (woraus) haben.
... § 985 BGB
-
E (wer) könnte gegen B (von wem) einen Anspruch auf Herausgabe der Sache (was) gem. § 985 BGB (woraus) haben.
... § 812 I 1 Alt. 1 BGB
-
G (wer) könnte gegen S (von wem) einen Anspruch auf Herausgabe des Erlangten (was) gem. § 812 I 1 Alt. 1 BGB (woraus) haben.
... § 823 I BGB
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G (wer) könnte gegen S (von wem) einen Anspruch auf Schadensersatz (was) gem. § 823 I BGB (woraus) haben.
Bestandteile des Ausgangssatzes
Im Folgenden wird dieser Ausgangssatz in seine Bestandteile zerlegt:
Das Anspruchsziel ("wer will was von wem"?)

Zunächst ist das Anspruchsziel zu ermitteln, also danach zu fragen, wer was von wem will. Das ergibt sich entweder aus dem Sachverhalt oder steht klar im Bearbeitervermerk. Anspruchsziele gibt es eine ganze Menge. Hier ist eine Übersicht über Anspruchsziele, denen man im Studium so begegnet:

Diese Anspruchsziele und die dazu passenden Anspruchsgrundlagen muss man nicht alle auf einmal beherrschen. Man lernt die einzelnen Anspruchsziele nach und nach kennen. Im ersten Semester werden besonders gerne Ansprüche auf Erfüllung und/oder auf Herausgabe einer Sache (und hin und wieder auf Schadensersatz) abgeprüft:

Die Anspruchsgrundlage ("woraus"?)

Ist klar, was der Anspruchsteller will, muss in einem zweiten Schritt nach Rechtsnormen gesucht werden, die dem Anspruchsteller einen Anspruch hierauf einräumen. Das ist die Suche nach Anspruchsgrundlagen.
Definition: Anspruchsgrundlagen
Anspruchsgrundlagen (= Anspruchsnormen) sind Rechtsnormen, die an das Vorliegen des Tatbestands als Rechtsfolge die Entstehung eines Anspruchs knüpfen.
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Prüfungsreihenfolge der Anspruchsgrundlagen
In Klausuren prüft man in der Regel nicht nur eine, sondern eine ganze Reihe von in Betracht kommenden Anspruchsgrundlagen. Hier stellt sich dann die Frage, in welcher Reihenfolge diese Anspruchsgrundlagen zu prüfen sind. Um hier nichts zu übersehen und sich die Prüfung erheblich zu erleichtern, ist folgende Reihenfolge zu berücksichtigen:
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Hier eine Verortung von gängigen Anspruchsgrundlagen in dieses Schema. Keine Sorge, die Anspruchsgrundlagen in dieser Liste wird man im Studium nach und nach kennenlernen.
A. Vertragliche Ansprüche
I. Primäransprüche
- § 433 I 1
- § 433 II
- § 535 I 1
- § 535 II
- § 631 I Alt. 1
- § 631 I Alt. 2
II. Sekundäransprüche
- §§ 280 ff.
- §§ 346 ff.
- § 284
- § 285 I
B. Vertragsähnliche Ansprüche
- §§ 280 I, 311 II, 241 II
- § 122 I
- § 179 I
- §§ 677 ff.
C. Dingliche Ansprüche
- §§ 861 f.
- § 985
- § 1007 I, II 1
- §§ 987 ff.
D. Deliktische Ansprüche
- § 823 I
- § 823 II i.V.m. Schutzgesetz
- § 826
E. Bereicherungsrechtliche Ansprüche
- § 812 I 1 Alt. 1
- § 812 I 1 Alt. 2
Schema zum einzelnen Anspruch
Wurde das Anspruchsziel herausgearbeitet und wurden die in Betracht kommenden Anspruchsgrundlagen gefunden, stellt sich schließlich die Frage, wie bei der Prüfung einer einzelnen Anspruchsgrundlage vorzugehen ist.
Hierbei geht man folgendermaßen vor:
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Hier die Verortung einiger besonders wichtiger Rechtsnormen:

I. Anspruch entstanden

Die Entstehung eines Anspruchs kann, wie das Vorliegen aller sonstiger Rechtsfolgen, ganz grob auf zwei Tatbestände zurückgehen: Entweder auf einen rechtsgeschäftlichen oder einen gesetzlichen Tatbestand. Demnach ist hier entweder ein Rechtsgeschäft (bspw. Kaufvertrag) oder der gesetzliche Tatbestand einer Anspruchsgrundlage (bspw. § 985 BGB) zu prüfen.
Zudem dürfen der Entstehung des Anspruchs keine rechtshindernden Einwendungen entgegenstehen (in aller Regel Wirksamkeitshindernisse), wie etwa eine erfolgte Anfechtung gem. § 142 I BGB.
II. Anspruch nicht erloschen

In einem zweiten Schritt ist zu fragen, ob der entstandene Anspruch zwischenzeitlich erloschen/untergegangen ist. Hier müssen Rechtsnormen geprüft werden, die als Rechtsfolge das Erlöschen/Untergehen eines Anspruchs anordnen. Diese Rechtsnormen bezeichnet man als rechtsvernichtende Einwendungen. Einer der wichtigsten Einwendungen, quasi der Standardfall, ist die Einwendung aus § 362 I BGB. Hiernach erlischt das Schuldverhältnis (im engeren Sinne, = die Forderung), wenn der Schuldner die geschuldete Leistung bewirkt hat. Im Normalfall wurde dies bereits dargestellt: A hat von B einen Kugelschreiber für zehn Euro gekauft und ihm das Geld in die Hand gedrückt. Mit dem in die Hand drücken des Geldes hat sie die geschuldete Leistung bewirkt und der Anspruch des B aus § 433 II BGB ist gemäß § 362 I BGB erloschen.

B kann danach nicht nochmal zu A gehen und Zahlung der zehn Euro gem. § 433 II BGB verlangen. Der Anspruch aus § 433 II BGB hat zwar mal bestanden, ist aber gem. § 362 I BGB zwischenzeitlich wieder erloschen.

III. Anspruch durchsetzbar

Schließlich ist die Durchsetzbarkeit des Anspruchs zu prüfen. Hier werden rechtshindernde Einreden (= Leistungsverweigerungsrechte) geprüft, die den Anspruch zwar nicht vernichten, ihm aber die Durchsetzbarkeit nehmen. Vorstellen kann man sich das, als würde man den Anspruch auf Eis legen - den Anspruch gibt es zwar noch, er ist jedoch unbeweglich.
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Wenn in dem Normalfall die A zu lange damit wartet (3 Jahre, vgl. § 195 BGB näheres wird bei der Verjährung behandelt), die Aushändigung des Kugelschreibers zu verlangen, ...
... (1) entsteht für B mit Ablauf der Verjährungsfrist gemäß § 214 I BGB ein Leistungsverweigerungsrecht ...

... (2) Beruft B sich hierauf, übt er dieses Leistungsverweigerungsrecht also aus ...

... (3) führt dies dazu, dass der Anspruch der A aus § 433 I 1 BGB nicht mehr durchsetzbar ist. Bildlich gesprochen: Der Anspruch existiert zwar noch, wurde aber auf Eis gelegt.

Ergebnis
Wurde festgestellt, dass der Anspruch entstanden, nicht erloschen und durchsetzbar ist, so lässt sich schließlich als Ergebnis festhalten, dass dem Anspruchsteller der geprüfte Anspruch zusteht. Dabei wird auf den oben dargestellten Ausgangssatz wieder Bezug genommen:
Beispiele: Ergebnissatz bei Prüfung eines Anspruchs aus...
... § 433 I 1 BGB
-
K hat gegen V einen Anspruch auf Übergabe und Übereignung der Kaufsache gem. § 433 I 1 BGB.
... § 433 II BGB
-
V hat gegen K einen Anspruch auf Zahlung des vereinbarten Kaufpreises gem. § 433 II BGB.
... § 985 BGB
-
E hat gegen B einen Anspruch auf Herausgabe der Sache gem. § 985 BGB.
... § 812 I 1 Alt. 1 BGB
-
G hat gegen S einen Anspruch auf Herausgabe des Erlangten gem. § 812 I 1 Alt. 1 BGB.
... § 823 I BGB
-
G hat gegen S einen Anspruch auf Schadensersatz gem. § 823 I BGB.
Das war der Exkurs zur Prüfung von Ansprüchen. Die Dinge, die hier besprochen wurden, werden einen das gesamte Studium über begleiten. Es ist also notwendig, sich mit diesen Begrifflichkeiten so früh wie möglich vertraut zu machen.
Text und Grafiken von Nicholas Backhouse
Quellen:
1: Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, 12. Aufl. 2022, Rn. 63; siehe außerdem: Windscheid, Lehrbuch des Pandektenrechts, 7. Aufl., Frankfurt/M. 1891, § 37, S. 87 f.; Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, S. 355; Stadler, Allgemeiner Teil des BGB, 20. Aufl. 2020, § 4 Rn. 1 f.; Brox/Walker, Allgemeiner Teil des BGB, 46. Aufl. 2022, § 28 Rn. 3, 10 ff; Leipold, BGB I, 8. Aufl. 2015; Schoch/Schneider, VwGO Vor. § 42, Rn. 46.
2: Zum Schaubild: Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, S. 64, 363 ff.; Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, 12. Aufl. 2022, Rn. 64; Stadler, Allgemeiner Teil des BGB, 20. Aufl. 2020, § 5 Rn. 2; Leipold, BGB I, 8. Aufl. 2015, S. 80; Brox/Walker, Allgemeiner Teil des BGB, 46. Aufl. 2022, § 28 Rn. 13. Die Unterteilung ist bei jedem Lehrbuch etwas anders, weswegen hier versucht wurde nur das Wichtigste darzustellen. Zu beachten ist auch, dass nicht alle Rechte bestimmten Gruppen zugeordnet werden können, weswegen diese Aufteilung als unvollständig aufzufassen ist.
3: Leenen, Anspruchsaufbau und Gesetz: Wie die Methodik der Fallbearbeitung hilft, das Gesetz leichter zu verstehen, JURA 2011, S. 723; Petersen, Die Entstehung und Prüfung von Ansprüchen, JURA 2008, S. 180; Brox/Walker, Allgemeiner Teil des BGB, 46. Aufl. 2022, § 30 Rn. 12.
4: Siehe hierzu insb. Medicus/Petersen, Bürgerliches Recht, 28 Aufl. 2021, § 1 Rn. 7-10; Brox/Walker, Allgemeiner Teil des BGB, 46. Aufl. 2022, § 38 Rn. 7 ff.; Medicus/Petersen, Grundwissen zum Bürgerlichen Recht, 12. Aufl. 2021, § 2 Rn. 5.
5: Brox/Walker, Allgemeiner Teil des BGB, 46. Aufl. 2022, § 38 Rn. 22 ff.
6: Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, S. 371: „Einreden des bürgerlichen Rechts bilden einen Sonderfall des Gestaltungsrechts (Jahr)“



































