Orientierung - Privatrecht
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Prüfungsschema zur Anfechtung
Um bei der Prüfung der Anfechtung nichts zu übersehen, bietet sich die Beachtung des nachfolgenden Prüfungsschemas an.

Im Weiteren wird auf diese Punkte näher eingegangen, nachdem geklärt ist, wo die Anfechtung zu prüfen ist (Prüfungsstandort).
Prüfungsstandort
Die Anfechtung führt gem. § 142 I BGB zur anfänglichen (= ex-tunc) Nichtigkeit des angefochtenen Rechtsgeschäfts. Es handelt sich bei § 142 I BGB also um ein Wirksamkeitshindernis. In der Klausur muss es inzident bei der Prüfung der Wirksamkeit eines anderen Rechtsgeschäfts (beispielsweise eines Kaufvertrags) geprüft werden:

1. Anwendbarkeit/Zulässigkeit

In bestimmten Fällen ist die Anfechtung schon nicht zulässig, bzw. die Vorschriften zur Anfechtung nicht anwendbar.
Anfechtbar sind:
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Alle Rechtsgeschäfte (zu beachten sind jedoch etwaige Spezialvorschriften)
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I.d.R. Geschäftsähnliche Handlungen (Ausnahme: Mängelrüge und Anerkenntnis gem. § 212 I Nr. 1 BGB)
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Nach h.M. aus anderen Gründen nichtige Rechtsgeschäfte
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Umstritten ist, ob eine bereits ausgeübte Innenvollmacht anfechtbar ist
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Nicht anfechtbar sind Realakte
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2. Anfechtung

Wie jedes Rechtsgeschäft muss die Anfechtung (1) zustande gekommen (= tatbestandlich vorliegen) und (2) wirksam sein.
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a) Tatbestand der Anfechtung
Die Anfechtung erfolgt gem. § 143 I BGB „durch Erklärung (= Willenserklärung) gegenüber (= Empfangsbedürftigkeit) dem Anfechtungsgegner (§ 143 II-IV BGB)“. Die Anfechtungserklärung ist demnach eine empfangsbedürftige Willenserklärung. Also können die Voraussetzungen und Rechtsnormen, die bereits bei der Willenserklärung behandelt wurden, an dieser Stelle relevant werden.
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Vorliegen des objektiven und subjektiven Erklärungstatbestands,
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Auslegung gem. §§ 133, 157 BGB,
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Wirksamwerden durch Abgabe & Zugang/Vernehmung,
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Wirksamkeitshindernisse der Willenserklärung (insbesondere die Bedingungsfeindlichkeit)
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Bei der Auslegung des Erklärungszeichens gem. §§ 133, 157 BGB gilt folgendes zu beachten:
Zwar bedarf es nicht des ausdrücklichen Gebrauchs des Wortes „anfechten“, die Willenserklärung muss jedoch unzweideutig erkennen lassen, dass das Geschäft wegen eines Willensmangels beseitigt werden soll.
Diese strengen Voraussetzungen an die Anfechtungserklärung werden deswegen gestellt, weil die Anfechtung gem. § 142 I BGB zur Nichtigkeit des Rechtsgeschäfts führt, und damit für den Anfechtungsgegner und den Rechtsverkehr eine besonders einschneidende Rechtsfolge hat. Deswegen dürfen Anfechtungsgegner und Rechtsverkehr nicht im Unklaren über das Vorliegen einer Anfechtungserklärung gelassen werden. Letztlich bedeutet das, dass Zweifel bei der Auslegung zulasten des Erklärenden gehen.
Zudem muss ermittelt werden, gegen welches Rechtsgeschäfts die Anfechtungserklärung gerichtet ist.
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Neben einer wirksamen Anfechtungserklärung ist erforderlich, dass der Erklärende anfechtungsberechtigt ist und er die Erklärung gegenüber dem richtigen Anfechtungsgegner erklärt.
Wer anfechtungsberechtigt ist, ergibt sich aus den Anfechtungsgründen. Nach § 119 BGB ist dies der Irrende, nach § 120 BGB der Geschäftsherr und nach § 123 I BGB der Getäuschte oder Bedrohte. Im Falle der Stellvertretung steht das Anfechtungsrecht dagegen nicht dem Vertreter sondern grundsätzlich nur dem Vertretenen zu, da diesen die Wirkungen des Rechtgeschäfts treffen.
Wem gegenüber die Anfechtungserklärung abzugeben ist (der Anfechtungsgegner), ergibt sich aus § 143 II-IV BGB.
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Bei der Anfechtung eines Vertrages (= zweiseitiges Rechtsgeschäft) der andere Teil = Vertragspartner, § 143 II BGB
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Bei der Anfechtung eines einseitigen Rechtsgeschäfts = derjenige, dem gegenüber die Erklärung abzugeben war, § 143 III BGB bzw. derjenige, der aufgrund des Rechtsgeschäfts unmittelbar einen rechtlichen Vorteil erlangt hat, § 143 IV BGB.
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Besonders hervorzuheben ist außerdem die Bedingungsfeindlichkeit der Anfechtungserklärung analog § 388 S. 2 BGB (Wirksamkeitshindernis der Willenserklärung). Eine unter einer Bedingung oder Zeitbestimmunng abgegebene Anfechtungserklärung ist unwirksam, da die damit einhergehende Schwebelage für den Anfechtungsgegner unzumutbar ist.
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Ausnahmen: Eventualanfechtung und Potestativbedingung (str.)
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b) Wirksamkeit der Anfechtung
Die Anfechtung ist ein einseitiges Rechtsgeschäft und muss demnach auch wirksam sein. Alle Normen, die die Unwirksamkeit von Rechtsgeschäften vorsehen, können hier relevant werden. An dieser Stelle können also allgemeine Wirksamkeitserfordernisse und -hindernisse des Rechtsgeschäfts geprüft werden.


Da es sich bei der Anfechtung um ein einseitiges Rechtsgeschäft handelt, gilt es neben diesen allgemeinen Wirksamkeitsvorschriften besondere Wirksamkeitsvorschriften bezüglich einseitiger Rechtsgeschäfte zu beachten, namentlich den § 111 S. 1 BGB, den § 111 S. 2 BGB, den § 180 S. 1 BGB und den § 174 S. 1 BGB:

Die Anfechtungserklärung ist nicht formbedürftig und zwar auch dann, wenn das angefochtene Rechtsgeschäft der Form bedarf. § 125 S. 1 BGB ist hinsichtlich der Anfechtung also nahezu bedeutungslos.
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3. Anfechtbares Rechtsgeschäft
Außerdem ist erforderlich, dass (zur Zeit der Anfechtungserklärung) ein Anfechtungsrecht besteht - man spricht dann von einem anfechtbaren Rechtsgeschäft.
Ein Anfechtungsrecht besteht, wenn es entstanden und nicht erloschen ist.
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a) Entstehung des Anfechtungsrechts
Rechtsnormen, die die Entstehung eines Anfechtungsrechts als Rechtsfolge anordnen, bezeichnet man als Anfechtungsgründe. Hiervon gibt es im Allgemeinen Teil des BGB insgesamt 6 Stück:
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Die genauen Tatbestandsvoraussetzungen dieser Anfechtungsgründe werden auf der nächsten Seite näher beleuchtet.
b) Kein Erlöschen des Anfechtungsrechts
Ist ein Anfechtungsrecht entstanden, darf es außerdem nicht erloschen sein. Das Anfechtungsrecht erlischt durch Ablauf der Anfechtungsfrist, durch Bestätigung nach § 144 BGB und wenn es ausgeübt wurde.
Besonders wichtig ist dabei das Erlöschen durch Ablauf der Anfechtungsfrist (sog. Ausschlussfrist). Die Anfechtungsfristen sind in den §§ 121, 124 BGB geregelt. Welche Frist einschlägig ist, lässt sich dem Wortlaut der §§ 121, 124 BGB entnehmen:
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§ 121 BGB: „in Fällen der §§ 119, 120“
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§ 124 BGB: „einer nach § 123 I anfechtbaren Willenserklärung“
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Die §§ 121, 124 BGB schützen den Anfechtungsgegner vor der mit dem Anfechtungsrecht entstehenden Unsicherheit. Für den Anfechtungsgegner ist die mit der Entstehung des Anfechtungsrechts eintretende Rechtslage nämlich eine äußerst ungünstige. Ob ihn die Rechtsfolgen des anfechtbaren Rechtsgeschäfts treffen, hängt nun allein vom Willen des Anfechtungsberechtigten ab. Deshalb ist zum Schutz seiner Interessen eine zeitliche Begrenzung des Anfechtungsrechts erforderlich.
Zu beachten gilt, dass sowohl in § 121 BGB als auch in § 124 BGB jeweils zwei Fristen geregelt sind. Einmal eine subjektive Frist (= Frist, deren Beginn insbesondere von der Kenntnis/Kennenmüssen des Berechtigten abhängt - § 121 I BGB & § 124 I, II BGB) und einmal eine objektive Höchstfrist (= Frist, deren Beginn von außerhalb des Berechtigten liegenden Umständen abhängt - § 121 II BGB & § 124 III BGB).
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Definition: Unverzüglich
Unverzüglich meint nach der Legaldefinition des § 121 I 1 BGB „ohne schuldhaftes Zögern“ dies bedeutet, dass dem Anfechtungsberechtigten eine angemessene Überlegungsfrist zur Verfügung steht, wobei es ihm auch möglich ist, bei zweifelhafter Rechtslage Rechtsrat einzuholen.
Definition: Kenntniserlangung des Anfechtungsgrundes
Für die Kenntniserlangung nach § 121 I 1 BGB genügt es, dass der Berechtigte einen Irrtum für ernsthaft möglich hält.
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4. Rechtsfolgen
Wurde ein anfechtbares Rechtsgeschäft angefochten, ist es gem. § 142 I BGB als von Anfang an (= ex-tunc) nichtig anzusehen. Das hat bspw. zur Folge, dass aus einem Verpflichtungsgeschäft (bspw. Kaufvertrag) resultierende Ansprüche als nicht entstanden gelten.

Weitere Rechtsfolge ist das Erlöschen des Anfechtungsrechts.
Zudem ist mit der erfolgten Anfechtung die zentrale Voraussetzung des § 122 I BGB gegeben, wodurch dann i.d.R. auch ein Anspruch auf Schadensersatz des Anfechtungsgegners aus § 122 I BGB entsteht. Dieser Anspruch wird auf der Seite 4. § 122 näher betrachtet.
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Text und Grafiken von Nicholas Backhouse
Quellen:
1: Grüneberg/Ellenberger, 82. Aufl. 2023, § 143, Rn. 3.
5: Leenen/Häublein, BGB Allgemeiner Teil, 3. Aufl. 2021, § 14 Rn. 5, 25.
6: Grüneberg/Ellenberger, 82. Aufl. 2023, § 143 Rn. 2.
7: Grüneberg/Ellenberger, § 143 Rn. 3; BGH NJW 2017, 1660 Rn. 29; Leenen/Häublein, BGB Allgemeiner Teil, 3. Aufl. 2021, § 14 Rn. 7 ff; BGH NJW 2017, 1660 Rn. 29.
8: Leenen/Häublein, BGB Allgemeiner Teil, 3. Aufl. 2021, § 14 Rn. 6 ff.
9: Leenen/Häublein, BGB Allgemeiner Teil, 3. Aufl. 2021, § 14 Rn. 8.
9a: MüKoBGB/Busche, 9. Aufl. 2021, BGB § 142 Rn. 6; Brox/Walker, Allgemeiner Teil des BGB, 46 Aufl. 2022, § 18 Rn. 31.
9b: MüKoBGB/Busche, 9. Aufl. 2021, BGB § 142 Rn. 6; Leenen/Häublein, BGB Allgemeiner Teil, 3. Aufl. 2021, § 14 Rn. 129; Grüneberg/Ellenberger, 82. Aufl. 2023, § 143 Rn. 4.
9c: Brox/Walker, Allgemeiner Teil des BGB, 46 Aufl. 2022, § 18 Rn. 31.
10: Leenen/Häublein, BGB Allgemeiner Teil, 3. Aufl. 2021, § 14 Rn. 17.
10a: Neuner, § 41 Rn. 13.
11: Leenen/Häublein, BGB Allgemeiner Teil, 3. Aufl. 2021, § 14 Rn. 18.
11a: Grüneberg/Ellenberger, 82. Aufl. 2023, § 143, Rn. 3, MüKoBGB/Busche, 9. Aufl. 2021, BGB § 142 Rn. 2 f.
11b: Leenen/Häublein, BGB Allgemeiner Teil, 3. Aufl. 2021, § 14 Rn. 28.
12: Leenen/Häublein, BGB Allgemeiner Teil, 3. Aufl. 2021, § 14 Rn. 29.
13: Grüneberg/Ellenberger, 82. Aufl. 2023, § 143 Rn. 1.
14: Leipold, BGB I, 11. Aufl. 2022, § 18 Rn. 2.
15: Grüneberg/Ellenberger, 82. Aufl. 2023, § 121 Rn. 1.
16a: Neuner, § 41 Rn. 26.
16b: Neuner, § 41 Rn. 25.
16: Leenen/Häublein, BGB Allgemeiner Teil, 3. Aufl. 2021, § 18 Rn. 9. zur Frage, warum der Gesetzgeber zwei Fristen vorgesehen hat, siehe Leenen/Häublein, BGB Allgemeiner Teil, 3. Aufl. 2021, § 19 Rn. 16.
17: Grüneberg/Ellenberger, § 143 Rn. 1.

































