Orientierung
Zustand & Veränderung
Ausgangspunkt der Visualisierung ist die Aufteilung von Rechtsnormen in solche, die die Rechtslage beschreiben (= zustandsbeschreibende Rechtsnormen) und solche, die die Veränderungen der Rechtslage beschreiben (= zustandsverändernde Rechtsnormen). Das ist eine sehr abstrakte Zweiteilung, weswegen ich zur Erläuterung mit einem Beispiel beginnen will.

Beispiel: Zustand & Veränderung
§ 903 S. 1 BGB kann als Prototyp einer zustandsbeschreibenden Rechtsnorm verstanden werden. Er beschreibt lediglich das Eigentum, sagt jedoch nicht, wie dieses entsteht, übertragen, belastet oder aufgehoben wird. § 903 S. 1 BGB geht völlig in der Beschreibung des Eigentums auf.
Um nun aber das Eigentum i.S.d. BGBs verstehen zu können, muss man wissen, wie dieses entsteht, übertragen, belastet und aufgehoben wird. Dafür muss man zustandsverändernde Rechtsnormen finden, deren Rechtsfolge sich auf gerade diese Veränderungen (Entstehung, Übertragung, Belastung oder Aufhebung) beziehen. Solche Normen finden sich in den §§ 925 ff. BGB, die den Erwerb (≙ Entstehung) und den Verlust (≙ Aufhebung) an Sachen regeln. Man kann sie demnach als zustandsverändernde Rechtsnormen qualifizieren.
Diese Trennung ist keineswegs unvereinbar mit der in der analytischen Rechtstheorie gängigen Imperativentheorie, wonach das Recht In vollständige und unvollständige Rechtsnormen zu unterteilen ist. Die hier dargelegte Trennung verfolgt schlichtweg einen anderen Zweck: Sie dient der Verbildlichung. Nicht mehr und nicht weniger.
Diese Einteilung bildet den Ausgangspunkt der Visualisierung und findet sich ähnlich bei Kelsen, der (jedoch beschränkt auf Ermächtigungs-/Kompetenznormen) zwischen statischen und dynamischen Rechtsnormen unterscheidet. Sie findet sich außerdem angedeutet in der Ausbildungsliteratur. So spricht etwa Medicus/Petersen vom „Ruhezustand“ (= Zustandsbeschreibung) und den „Bewegungsvorgängen“ (= Zustandsveränderung), Es wäre demnach anmaßend, hier von „meinem“ Geisteskind zu sprechen. Dennoch beruht sie auf originären Überlegungen meinerseits und bildet, wie beschrieben, das Fundament der Visualisierung.
1
2
Zustand & Veränderung im Schachspiel
Diese Art der Visualisierung beschränkt sich nicht nur auf das Recht, sondern lässt sich auf sämtliche Sollensordnungen übertragen, was ich exemplarisch am Schachspiel darstellen möchte.
In der Rechtswissenschaft geht es natürlich weniger um Spiel und Spaß, doch hat Spiel und Recht eine unheimlich wichtige Gemeinsamkeit: Es sind beides Regelwerke (= mehrere zusammenhängende Regeln), auch Sollensordnungen genannt. Sie knüpfen an die Realität an und schreiben vor, wie man sich verhalten soll – deswegen Sollensordnung.
Das Schachspiel (verstanden als abstraktes Regelsystem) lässt sich definieren als die Gesamtheit der Schachregeln. Vorstellen kann man sich das, als würde man aus dem Schach-Regelwerk sämtliche Regeln (in den FIDE-Schachregeln findet eine Auflistung in Artikeln statt) herausschneiden und gemeinsam in eine Box werfen, auf die dann „Schachspiel“ geschrieben wird.

3
Zur Verbildlichung solcher Regelwerke müssen nun zwei Arten von Regeln unterschieden werden: zustandsbeschreibende und zustandsverändernde Regeln.
Diese Aufteilung resultiert aus folgenden Überlegungen:
Das einzelne Schachspiel (verstanden als konkreter Spieldurchlauf) besteht aus verschiedenen Zuständen. Die Regeln, die sich auf die Beschreibung dieser Zustände beziehen (wer sind die Mitspieler, was dürfen/müssen diese tun, was sind die Spielfiguren, was ist das Spielbrett, …), lassen sich als zustandsbeschreibende Regeln bezeichnen.

Andererseits sind diese Zustände durch Veränderungen in der Zeit miteinander verbunden. Sie stehen also nicht zufällig/unverbunden zueinander. Regeln, die sich auf den Übergang dieser Zustände beziehen (Zug machen, Figur schlagen, Uhr betätigen, …), lassen sich als zustandsverändernde Regeln bezeichnen.

Text und Grafiken von Nicholas Backhouse
Quellen:
1: Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, S. 235 ff.
2: Medicus/Petersen, Grundwissen zum Bürgerlichen Recht, 12. Aufl. 2022, S. 16, S. 12 ff.
3: Übersetzung der FIDE-Schachregeln gültig ab 1. Januar 2023 Herausgegeben von der Schiedsrichterkommission des Deutschen Schachbundes e.V., abrufbar auf: https://www.schachbund.de/srk-news/neue-fide-regeln-ab-01-01-2023.html